Schon zu Beginn der Corona-Pandemie spielte die Situation im Gesundheitssektor eine zentrale Rolle in der öffentlichen Debatte. Der Begriff der „systemrelevanten Berufe“ ist in aller Munde und berührt damit grundsätzliche Fragen der gesellschaftlichen Organisation. Es wurde viel von Wertschätzung gesprochen, die Kolleg*innen in den Krankenhäusern wurden für ihre wichtige Arbeit beklatscht. Nun sind die Tarifverhandlungen zwischen ver.di auf der einen und Bund und Kommunen auf der anderen Seite abgeschlossen. Rückwirkend zum 01.09.2020 gilt der neue Tarifvertrag im öffentlichen Dienst (TVöD). Zeit für uns – als kollegiale Streikunterstützer*innen – die erzielten Ergebnisse, aber auch die grundsätzliche Perspektive der gewerkschaftlichen Organisierung im öffentlichen Dienst einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.
Verbesserungen trotz Krise?
Dass es gelungen ist, trotz der wirtschaftlich wie auch gesundheitspolitisch angespannten Lage Kolleg*innen zu mobilisieren, zu streiken und die Auseinandersetzung um ihre Arbeitsbedingungen trotz Pandemie nicht komplett unter den Teppich zu kehren, ist für sich schon ein Erfolg. Während es leider sowohl unter den Beschäftigten als auch gesamtgesellschaftlich durchaus verbreitet ist, Streiks im Gesundheitssektor als verantwortungslos gegenüber Patient*innen darzustellen, haben die Kolleg*innen gezeigt, dass dies nicht der Fall ist und Streiks durchaus machbar sind. Die gängige Hetze der Bosse nach dem Motto „wer streikt schadet dem Patienten“ konnte diesmal nicht ihre volle Wirkung entfalten. Im Frühjahr war zu deutlich geworden, dass sich im Gesundheitssystem etwas ändern muss. Hier bestand Potenzial, das leider nicht genutzt werden konnte. So hat der ver.di-Vorstand den Arbeitskampf von Anfang an nur sehr zögerlich geführt. Die Pandemie wurde benutzt, um eine volle Mobilisierung der Beschäftigten zu verhindern. Dies war u.a. in Berlin deutlich zu erkennen, wo systematisch verhindert wurde, dass Beschäftigte aus verschiedenen Teilen des öffentlichen Dienstes gemeinsam streiken. Zu einer Verbindung der verschiedenen Arbeitskämpfe – z.B. mit den kämpfenden Kolleg*innen bei der outgesourcten Charité Facility Management (CFM) – kam es daher nicht.
Die Argumentation des „Netzwerks für eine kämpferische und demokratische ver.di“ zeigt, wie viel Potenzial in diesem Arbeitskampf gesteckt hätte:
„ […] in den Betrieben und Dienststellen wissen wir doch eigentlich, dass die Pandemie nur noch mehr offenbart hat, wie berechtigt unsere Forderungen sind, um einen attraktiven und leistungsfähigen öffentlichen Dienst zu haben, der auch mit einer Pandemie fertig werden kann.“
Netzwerk ver.di
Dennoch wird die Krise von Seiten der Bosse in Wirtschaft und Staat als Ausrede genutzt, warum jetzt „alle“ zurückhaltend sein müssten. „Wir alle müssen den Gürtel jetzt enger schnallen,“ heißt es aus den Chefetagen. Der Streik im öffentlichen Dienst hat es nicht geschafft, dieser Argumentation entgegenzutreten und der Gesellschaft klar zu machen, dass gerade die Pandemie die Notwenigkeit besserer Arbeitsbedingungen aufgezeigt hat. Doch diese können nur durch eine volle Mobilisierung aller Beschäftigten und entschlossene Arbeitskämpfe erstritten werden. Dass durch einen Streik „mit angezogener Handbremse“ die ursprünglichen Forderungen nicht annhährend umgesetzt werden konnten, ist nicht verwunderlich.
Bei der langen Laufzeit von 28 Monaten werden die jährlich gestaffelten Lohnerhöhungen um erst 1,4 Prozent (bei mind. 50 Euro in den unteren Entgeltgruppen) und später 1,8 Prozent wohl kaum die zu erwartende Inflation ausgleichen. Es gibt also etwas mehr Lohn, aber die Preissteigerung frisst alles wieder auf. Hinzu kommt, dass die erste Erhöhung erst im April 2021 einsetzt, ganze acht(!) Monate nach Beginn des Tarifvertrages. Ist also in Wirklichkeit gar nichts gewonnen?
Das lässt sich so nicht sagen, denn durch Sonderzahlungen, wie etwa eine einmalige Corona-Prämie diesen Dezember oder die Einführung der Pflegezulage, wird die niedrige Tariferhöhung für viele Arbeiter*innen im TVöD wenigstens ein bisschen kompensiert.Von grundsätzlichen Verbesserungen oder gar einer wirklichen Wertschätzung der „systemrelevanten Berufe“ kann jedoch keine Rede sein. Während im gesellschaftlichen Diskurs die Forderung nach der Verringerung der Arbeitszeit und damit verbunden besserer Personalausstattung immer mehr Attraktivität gewinnt, scheint dies im DGB bis auf vorsichtige Ausnahmeerscheinungen bei der IG Metall kein Thema zu sein. Viel mehr reiht sich diese Tarifrunde in die seit Jahrzehnten währende Tradition des Inflationsausgleichs ein, verpackt in Krisengejammer der Wirtschaft und mit ein paar Extras, um besonders belastete und kämpferische Berufsgruppen ruhig zu halten. In der kommenden Tarifrunde im Dezember in der Metall- und Elektrobranche unter Federführung der IG Metall wird sich das selbe Schauspiel wiederholen.
Klassenkampf als gesellschaftliche Perspektive!
Eigentlich sind die Bedingungen gerade gut, um diese Stagnation in der Gewerkschaftsbewegung zu überwinden. Ein großer Teil der Bevölkerung hat schon in der ersten Welle der Pandemie eine zumindest theoretische Solidarität mit prekär Beschäftigten in gesellschaftlich relevanten Bereichen formuliert. Die Widersprüche zwischen Großkapital und Lohnabhängigen spitzen sich ganz offen zu und milliardenschwere Rettungspakete für private Unternehmen sorgen in weiten Teilen der Gesellschaft für eine Mischung aus Empörung und Galgenhumor. Die Hegemonie des Neoliberalismus scheint angesichts der Krise zu bröckeln. Was allerdings fehlt ist eine realistische Perspektive, wie es voran gehen kann.
Die klassisch sozialdemokratischen Wege über die großen Gewerkschaften und Parteien liefern eine Farce nach der anderen ab. Um der Passivität und auch der Hinwendung von frustrierten Arbeiter*innen zu vermeintlichen Alternativen von rechts zuvor zu kommen, gilt es, die soziale Frage nicht nur verbalradikal und abstrakt zu stellen, sondern die schon stattfindenden Kämpfe konkret zu unterstützen und dabei kämpferische Betriebsräte und aktive Gewerkschafter*innen einzubinden. Wenn die Gewerkschaftsführungen sich in ihrer sozialpartnerschaftlichen Rolle, über Nachkommastellen bei Lohnerhöhungen zu verhandeln, gefallen, dann ist es die Aufgabe linker Bewegungen, weitreichendere Forderungen populär zu machen. Geht es beispielsweise um die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst, muss die Wiedereingliederung outgesourcter Betriebe und letztendlich eine Verstaatlichung der „systemrelevanten Infrastruktur“ ein zentrales Ziel sein.
Gespaltene Belegschaften, ob durch Outsourcing in private Subunternehmen wie bei der CFM oder durch unterschiedliche Tarifverträge, müssen in den laufenden Arbeitskämpfen vereint und somit in ihrer Kampfkraft gestärkt werden. Arbeitskämpfe müssen gerade im Bereich der Care-Arbeit unter feministischen und antirassistischen Gesichtspunkten behandelt werden, sodass die dort vorhandenen Zusammenhänge eine klassenkämpferische Praxis nicht erschweren, sondern die gewerkschaftlichen Strategien zwangsläufig radikalisieren. Dabei gilt es, die Arbeiter*innen mit ihren (möglichen) Betriebskämpfen nicht als Projektionsfläche für eigene, nicht-geführte Kämpfe zu instrumentalisieren. Neben der notwendigen solidarischen Unterstützung und politischen Flankierung bestehender Auseinandersetzungen, liegt es an uns, die Kämpfe in die eigenen Arbeitsverhältnisse zu tragen. Schließlich sind wir dort authentisch, wo wir als klassenkämpferische Linke selbst mit den Widrigkeiten der Lohnarbeit kämpfen, als Kolleg*innen ansprechbar sind und darüber Einfluss auf die Belegschaft nehmen können.
Über die Gewerkschaften hinaus denken und handeln
Wenn es gelingt, Lohnabhängigen linke Forderungen als erstrebenswert und vor allem auch umsetzbar zu vermitteln, werden die Gewerkschaftsbürokrat*innen im DGB gut daran tun, mit ihrer festgefahrenen zahmen Praxis zu brechen, um nicht in gesellschaftlicher Irrelevanz unterzugehen. Als Beschäftigte müssen wir die Gewerkschaften vor uns hertreiben.
Konkret heißt das, nicht nur darüber zu meckern, dass die Corona-Krise durch Politik und Arbeitgeber*innen ohne Rücksicht auf Verluste auf dem Rücken der Arbeiter*innen ausgetragen wird. Stattdessen gilt es, aufmerksam wahrzunehmen, wo es in unserem lokalen Umfeld schon laufende oder aufkommende Klassenkämpfe gibt und uns dort einzubringen. Sowohl durch Diskussionen mit den Beschäftigten als auch durch gemeinsame Aktionsformen, die über jene der Gewerkschaften hinaus gehen.
Und umgekehrt dürfen linke Themen nicht losgelöst von klassenkämpferischer Praxis bearbeitet werden. Bereiche wie der Internationale Frauen*streik oder die rassistische Ausgrenzung migrantischer Arbeiter*innen müssen langfristig in eine Praxis überführt werden, die reale gesellschaftliche Veränderungen erwirken kann und nicht in liberal- individualistischer Arbeit an der eigenen Person endet.
Konkret bedeutet das für uns, zu überlegen wie eine praktische, klassenkämpferische Unterstützung von Arbeitskämpfen außerhalb der gewerkschaftlichen Gremien aussehen kann. Bisher haben wir gute Erfahrungen damit gesammelt, Streikposten zu besuchen und unsere Solidarität im Netz wie auch praktisch vor Ort zu bekunden, sowie an gewerkschaftlichen Demonstrationen teilzunehmen und dort eine radikale Option sichtbar zu machen.
Darüber hinaus ist es wichtig, in unseren Publikationen und in unserer Propaganda diese Begleitung inhaltlich zu dokumentieren und Räume und Öffentlichkeit in unseren Kiezen zu schaffen, wo diese Arbeitskämpfe einem erweiterten Publikum bekannt gemacht und so popularisiert werden können.
Hinweis auf ein Dossier bei labournet zum Thema.