Die Berliner Polizei und Innensenator Geisel (SPD) haben ein neues Modellprojekt zu Steigerung des allgemeinen Sicherheitgefühls: mobile Videowagen. Diese klobigen, mit zwei hochauflösenden, an einer Teleskopstange befestigten, Kameras ausgerüsten Anhänger werden in nächster Zeit an sogenannten „kriminalitätsbelasteten Orten“ (kbO) aufgestellt. Laut dem „Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz“, kurz ASOG, kann ein Ort als kriminalitätsbelastet eingestuft werden, wenn dort besonders viele Straftaten von erheblicher Bedeutung (z.B. Raub, Taschendiebstahl, Drogenhandel) festgestellt werden. Eine Definition als kBO hat zur Folge, dass die Polizei verdachtsunabhängige Identitäsfestellungen und Durchsuchungen durchführen kann. Die Schnüffelwagen sollen nun für einen Zeitraum von 3 Monaten an den kbOs am Alexanderplatz, Leopoldplatz, Hermannplatz, Kottbusser Tor und am RAW-Gelände getestet werden. Es soll untersucht werden, ob mit ihrer Hilfe die miserable Aufklärungenquote der Polizei verbessert werden kann. An den Ursachen der Kriminalität ändert dies jedoch nichts.
Die rechtliche Grundlage für die Schnüffelwagen ist im Paragraf 24 des ASOG geregelt. Demnach dürfen Kameras bei Veranstaltungen und Ansammlungen eingeschaltet sein, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dabei Straftaten begangen werden“. Die Polizei trifft dabei die Entscheidung, wann, wie und wie lange eine Kamera eingeschaltet und was eine kamera-relevante Ansammlung ist. Vertrauensvoll klingt das nicht gerade, ist der staatliche Repressionsapparat doch kontinuierlich daran beteiligt, rechtswidrig Demonstrant*innen mit Videoaufnahmen zu kriminalisieren und Personen im öffentlichen Raum rassistisch zu kontrollieren.
Aktionismus und Law & Order-Politik ist das Gebot der Stunde und so wird seit Jahren die Videoüberwachung im öffentlichen Raum ausgebaut. Dabei gilt es nicht nur die vermeintliche „Terrorgefahr“ zu bekämpfen, sondern auch zukünftige Technologien zur sozialen Kontrolle zu erproben und sie gegenüber der Bevölkerung zu legitimieren und zu normalisieren. Das herrschende Verständnis von „Sicherheit“ bedeutet dabei keine Sicherheit vor struktureller Gewalt, vor rassistischen Polizeikontrollen (racial profiling) oder dem Schutz vor Zwangsräumngen und der damit gewaltsam herbeigeführten Wohnungslosigkeit. Auch unter Rot-Rot-Grün werden die sich zuspitzenden gesellschaftlichen Widersprüche in dieser Stadt nicht mit einer sozialen Sicherheit beantwortet, sondern mit einer ordnungspolitischen: Mehr Videoüberwachnung statt bezahlbare Wohnungen! Statt Angeboten für Suchtkranke, gibt es mehr Polizei! Schließlich soll die Stadt immer weiter den kapitalistischen Verwertungsinteressen unterworfen werden. Die Ausweitung der Kontrolle über den öffentlichen Raum hat dabei noch einen weiteren Effekt: Sie nimmt uns zunehmend einen Ort der Begegnung und damit auch des Protestes.
Die Schnüffelwagen reihen sich dabei in eine Sicherheitsarchitektur ein, mit deren Hilfe nicht nur wiederständige Politik, sondern alles auffällige, unerwünschte Verhalten (Rumhängen, Drogenkonsum, etc.) überwacht und beherrschbarer gemacht werden sollen. Entgegen jeder wissenschaftlichen Erkenntnis wird dabei suggeriert, dass soziale Probleme durch Repression lösbar wären. Frei nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. Dankbar klatschen Immobilienspekulant*innen in die Hände, die nun damit rechnen können, dass Orte sozialer Widersprüche immer stärker unter den Druck solcher Repression geraten. Dabei hat es jahrzehntelang niemanden interessiert, wie das Sicherheitsgefühl der Kiezbewohner*innen war. Erst jetzt, im Zuge zunehmender Verdrängung, werden „Sicherheitskonzepte“ im Kiez durch die Präsenz von Polizei und privaten Sicherheitsdiensten ausgebaut. Das Credo „Wohnraum ist eine Ware“ und die Renditeinteressen der Wohnraumeigentümer*innen befördern noch die erzwungene Befriedung des Leopoldplatzes zugunsten attraktiven Wohnlagen.
Technische Möglichkeiten hochauflösender Kamerabilder, Gesichts- und Verhaltenserkennungs-Software (wie in diesem Jahr am Bahnhof Südkreuz erprobt), liefern vor diesem Hintergrund eine böse Vorahnung davon, wie die Repression der staatlichen Behörden zur Durchsetzung ihrer Sicherheits – also Kapitalinteressen – in Zukunft aussehen werden: Jede*r ist Verdächtig. Algorithmen bewerten Verhalten. Permanente Rasterfahndung mit Hilfe von biometrischen Daten – ein massiver Eingriff in unsere Grundrechte, der mit dem Fingerzeig auf angebliche Terror-Gefahren und Straßengewalt gerechtfertigt wird. Dabei geht es nicht um die Wiederherstellung eines öffentlichen Friedens und kaum um die wissenschaftliche Evaluation der getroffenen Maßnahmen, sondern vorallem um den Ausbau staatlicher Befugnisse. Was durch die (versuchte) Kontrolle von Messenger-Diensten wie WhatsApp, Telegram und Signal bereits passiert, soll nun auch im öffentlichen Raum möglich sein.
Diskriminierungen (wie Racial Profiling), welche täglich bei der Polizeiarbeit zu finden sind, werden auch durch den Einsatz dieser neuen Technologien nicht verhindert. In der öffentlichen Wahrnehmung mag zwar ein technisches System den Schein von Neutralität erwecken, doch die Realität sieht anders aus: Diskriminierende Verhaltensweisen werden durch den Einsatz von Überwachungskameras meist noch verstärkt. Im Fall der Schnüffelwägen sitzen noch analoge, durch die Rassismen der Gesellschaft geprägte, Beamt*innen hinter den Bildschirmen. Das monotone Auswerten von meist mehreren Bildquellen parallel, geschieht ohne Kontext und Kommunikationsmöglichkeit. Dies begünstigt die Reduktion der Entscheidung darüber, wer als nächstes kontroliert wird, auf Stereotype. Erkennungsroutinen werden zwar nicht müde, aber auch sie treffen Entscheidungen ohne sozialen Kontext, werden von Menschen programmiert und ihre Modelle sind quasi immer von den von Menschen selektierten Trainingsdaten abhängig. So wird auch in ihnen Stereotypen und Rassismen festgeschrieben.
Zusätzlich wird durch die Einführung der Schnüffelwagen zunehmend das Verhalten auf den öffentlichen Plätzen im Kiez beeinflusst. Die Bewohner*innen sind noch deutlicher als zuvor einem Gefühl der ständigen Kontrolle ihres Verhaltens durch die Polizei ausgesetzt. Das Handeln in der Öffentlichkeit verliert somit an Selbstbestimmtheit und wird immer mehr durch verschiedene Bewertungskriterien (wie Gesetzestreue, kapitalistische Verwertbarkeit, bürgerliche Sozialnormen) gelenkt. Dies führt zu einer Entmenschlichung des Miteinanders (social cooling¹). Aber auch das Verhalten innerhalb dieser Normen wird eingeschränkt, wenn die Befürchtung im Raum steht, dass die Aufnahmen gespeichert und zu einem späteren Zeitpunkt neu bewertet werden. Die Folge ist eine Selbstzensur im vorrauseilenden Gehorsam. Dieser sogenannte Chilling Effect² ist eine Gefahr für die demokratische Teilhabe und steht entgegen unserer Vorstellung eines solidarische und nachbarschaftlichen Kiezes.
2: https://de.wikipedia.org/wiki/Chilling_effect
Mehr Infos zum Schnüffelwagen
https://endstation.info/schnüffelwagen
Quellen
http://www.berliner-zeitung.de/berlin/mobile-ueberwachungskameras-so-will-die-polizei-an-brennpunkten-gegen-dealer-vorgehen-28454072
http://www.berliner-zeitung.de/berlin/polizei/gefaehrliche-orte-in-berlin-polizei-ruestet-mit-mobilen-videowagen-auf-28372762
https://netzpolitik.org/2017/berliner-buendnis-fuer-mehr-videoaufklaerung-ueberwachung-heisst-jetzt-datenschutz/
https://www.heise.de/tp/features/Videoueberwachung-und-Demokratie-3587282.html?seite=2