Im März 2020 gründeten wir unsere Arbeitsgemeinschaft „Wedding solidarisch“, welche der Corona-Pandemie praktische Solidarität und antikapitalistische Analysen von links entgegensetzte. Nach der intensiven Zeit, soziale Fragen unter Krisenvorzeichen von links zu besetzen, dokumentieren wir hier unsere Auswertung sowie unseren Debattenbeitrag. Wir gehen der Frage nach, wie die revolutionäre Linke auch in gesellschaftlichen Ausnahmezuständen handlungsfähig bleiben kann. Der Artikel wurde im revolt magazine zuerst veröffentlicht.
Die Corona-Pandemie bedeutet eine globale Krise des Kapitalismus mitsamt seiner alles durchdringenden, an Profit und Renditen ausgerichteten Gesundheits- und Wirtschaftspolitik. Während sich die staatlichen Restriktionsmaßnahmen auf allen gesellschaftlichen Ebenen überschlugen, wirkten große Teile der revolutionären Linken hierzulande gelähmt und handlungsunfähig. Die Dynamik und Rigorosität staatlicher Maßnahmen sorgten in linken Gruppen angesichts der überwiegend autonomen Organisationsformen für Ratlosigkeit. Kommunikationskanäle und ritualisierte Plena wurden über Nacht weitestgehend lahmgelegt. Klassische Aktionsformen waren plötzlich nicht mehr möglich und revolutionär-linke Inhalte waren dadurch noch weniger wahrnehmbar. Es fehlten handlungs- und entscheidungsfähige Strukturen, die trotz der Ausnahmesituation in der Lage waren, die Corona-Krise politisch dafür zu nutzen, Alternativen und Perspektiven aufzuzeigen. Die radikale Linke hat damit ihre Handlungsunfähigkeit in Krisensituationen gezeigt. Angesichts des neonazistischen Terrors von NSU 2.0, rechter Prepper-Gruppen und der größeren Anzahl aufgedeckter rechter Terrorzellen sowie des Versuchs der AfD, parlamentarische Macht zu gewinnen, eine schaurige Erkenntnis. Vor allem wenn wir uns vor Augen führen, dass der Staat mit seinen Institutionen nicht selten eine stützende Rolle im Aufbau dieser Terrorzellen spielt.
Die Rolle revolutionärer Kräfte
Dabei sind Krisen eigentlich das ureigene Feld revolutionärer Kräfte. Ihre Aufgabe ist es, Klassenkämpfe über den Umweg praktischer Solidarität und theoretischer Analyse zu stärken. In Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche und Veränderungen politisieren sich viele Menschen und suchen nach handlungsfähigen Organisierungen, um soziale Forderungen auch wirkmächtig artikulieren zu können. Beispiele dafür sind die „HartzIV-Proteste“ (2004), die „Bankenkrise“ (2008/2009) oder der „Sommer der Migration“ (2015) und die antirassistischen Proteste gegen die zahlreichen rassistischen Mobilisierungen (beispielsweise gegen die von der NPD initiierten „Nein-zum-Heim-Demonstrationen“). Es ist die Aufgabe revolutionärer Kräfte, die von der Krise betroffenen Lohnabhängigen anzusprechen und sie nachhaltig und langfristig für eine klassenkämpferische Praxis zu gewinnen.
Solidarität aufbauen
Zu Beginn des Lockdowns riefen linksliberale Akteur*innen oder Träger*innen der sozialen Daseinsfürsorge bundesweit dazu auf, sich in den von ihnen initiierten Solidaritätsnetzwerken ehrenamtlich zu engagieren. Auch linke Gruppen initiierten Netzwerke, z.B. in Hamburg, Stuttgart oder Berlin. Im Berliner Stadtteil Wedding wurden das Label und die Arbeitsgruppe „Wedding solidarisch“ von uns als „Hände weg vom Wedding“ gegründet. Dies fungierte als Klammer für eine linke, klassenkämpferische Perspektive auf die Krise („Klassenkampf statt Klatschen!“). Für uns bedeutete der Aufbau einer themenbezogenen Arbeitsgruppe sowohl das ideologische Besetzen der Krisenthemen, als auch die Schaffung einer Struktur, die kontinuierlich in der Lage ist, Interessierte in die politische Diskussion und Praxis einzubinden. Wie auch andere Initiativen gründeten wir zuerst moderierte Telegram- und Facebook-Gruppen, die schnell auf tausende Follower*innen anwuchsen. Neben der Vernetzungsmöglichkeit praktischer Unterstützungsangebote stellten sie auch wichtige Kanäle für die Bereitstellung linker, antikapitalistischer Analysen und Angebote dar. Diese bilden einen wichtigen Gegenpol zu den rechten Kräften, welche die Krise für das Propagieren von Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungsmythen nutzten und weiterhin nutzen.
Während die Bundesregierung Milliarden von Hilfsgeldern zur Absicherung der Profite großer deutscher Unternehmen verschleuderte, konnten wir in unseren eigenen Kanälen die Corona-Krise als das benennen, was sie ist: eine kapitalistische Krise. Die Schaffung von virtuellen wie praktischen Solidaritätsnetzwerken sind eine weiterzuentwickelnde Perspektive von Klassenpolitik. Besondere Abgrenzung braucht es in Bezug auf Netzwerke, mit denen staatliches Versagen durch sozialliberale Hilfsangebote kaschiert werden soll. In Berlin zeigte sich, dass der Senat und die Bezirke schnell in der Lage sind, Solidarität und praktische Unterstützung mittels geförderten Freiwilligenagenturen zu vereinnahmen. Innerhalb kurzer Zeit wurden zusätzliche Gelder bewilligt, um staatliche und staatsnahe Netzwerke zu gründen.
Die ideologische Distanz zum Staat, der politische Entscheidungen vor allem zugunsten der herrschenden Kapitalfraktionen trifft, muss daher aus radikal-linker Perspektive immer wieder herausgearbeitet werden. Andernfalls droht eine Vermischung der öffentlichen Wahrnehmung von linken Kriseninterventionen und staatlichem Krisenmanagement. Revolutionäre Krisenanalysen und -erzählungen bleiben dann auf der Strecke.
Das Virus heißt Kapitalismus
Mit der gegründeten Arbeitsgruppe „Wedding solidarisch“ wurde auf den Klassencharakter der (tödlichen) Auswirkungen der Pandemie hingewiesen. Denn das Virus ist kein von den gesellschaftlichen Verhältnissen und Verwerfungen entkoppeltes Gesundheitsproblem. Obwohl es zwar alle betreffen kann, betrifft es nicht alle gleich. Die sozialen Fragen um Arbeitsbedingungen, Wohnraum, patriarchale Gewalt und Rassismus haben sich schon vor der Pandemie gestellt und wurden durch die Krise noch verschärft und sichtbarer gemacht. Das Problem liegt im System und es ist unsere Aufgabe, gesellschaftliche Gegenentwürfe zu formulieren und auf die Straße zu tragen. Die im Rahmen der Pandemie drängendere Gesundheitsfrage versetzte uns in die Lage, über dieses Thema unsere Kampffelder Antifaschismus/Antirassismus, Mietenkämpfe, Arbeitskämpfe und Feminismus zu verknüpfen.
Angesichts der verstärkten Repressionen durch omnipräsente Polizeikräfte, verschärfte Bußgeldkataloge, die Aushebelung von Freiheitsrechten wie der Versammlungsfreiheit und vieles mehr, musste die Linke (wieder) lernen, unter repressiveren politischen Umständen zu arbeiten. Tausende Forderungskataloge („Für eine soziale und demokratische Lösung der Krise“), Plakate und Aufkleber wurden ausgegeben, im öffentlichen Raum verteilt und verklebt – auch mithilfe öffentlich beworbener Materialausgabestellen im Stadtteil. Das Ziel, mit radikal-linken Inhalten öffentliche Räume zu dominieren und die Krise zu deuten, konnte stellenweise erreicht werden. Das geschah plakativ wie praktisch durch konkrete Aktionen und Gespräche am Rande der Kundgebungen und im Kiez. Im Wedding organisierten wir von April bis Juli sechs Kundgebungen an zentralen Orten und zwei symbolische Aktionen vor den drei Weddinger Krankenhäusern. Dabei reihten wir uns in bestehende Aktionsnetzwerke ein, um unsere Themen gesamtgesellschaftlich einbetten zu können.
Neben einem feministischen und antirassistischem Aktionstag galt und gilt dies auch für die bundesweite Plattform #NichtaufunseremRücken. Regionale und überregionale Vernetzungen sind jetzt umso wichtiger, um nicht im beschränkten Lokalismus zu verharren. Das gegenseitige überregionale Aufeinanderbeziehen unterstützt eine organisatorische Kraft im Lokalen, die in der Lage ist, sich krisenfest aufzustellen. Im Rahmen unseres rätekommunistischen Umstrukturierungsprozesses konnten wir erneut feststellen, dass themenbezogene Diskussionen in Kommissionen, klare Verantwortlichkeiten und transparente Entscheidungswege dabei helfen, auch unter widrigen Bedingungen zu arbeiten.
Linke Krisenfestigkeit!
Mit der Arbeitsgruppe „Wedding solidarisch“ wurde Handlungsfähigkeit in einer politischen Ausnahmesituation hergestellt. Die Agitation mit spezifischen Materialien auf der Straße hat linken, antikapitalistischen Krisenerzählungen und Analysen viel Raum und eine breite Wahrnehmung verschafft, auf die wir weiterhin aufbauen.
Dabei sind diese Inhalte im alten Arbeiter*innenstadtteil Wedding auch vermittelbarer, da hier viele Menschen aufgrund von Armut, Arbeitslosigkeit und beengten Wohnverhältnissen von den kapitalistischen Ausbeutungsmechanismen betroffen sind. Außerdem sind – abgesehen von türkischen-faschistischen Strukturen – nur sehr wenige rechte Kräfte im Alltag präsent.
Selbstkritisch müssen wir anmerken, dass die Struktur der Arbeitsgruppe Wedding Solidarisch (z.B. Online-Plena) klassischen linken Praktiken folgte und damit das Potential in der Organisierung von interessierten, nicht-organisierten Menschen auf diesem Wege relativ gering war. Das Beteiligungsmoment in der Praxis von Wedding Solidarisch war dadurch begrenzt. Direkte Gespräche am Rande der Kundgebungen waren die hauptsächliche Möglichkeit, mit Leuten außerhalb der gewohnten Kontexte in Kontakt zu treten, insbesondere nach Lockerung der Beschränkungen des öffentlichen Lebens. Positive Momente ergaben sich oft bei Gesprächen über die konkrete Praxis von „Hände weg vom Wedding“. Dabei stellt das Stadtteilmagazin „Plumpe“ eine gute Basis dar, um radikal-linke Stadtteilarbeit zu diskutieren und linke Schwerpunkte weiter zu popularisieren.
Eine Herausforderung bleibt: die in der Corona-Pandemie geschaffenen Solidaritätsnetzwerke und Arbeitsgruppen mit der Überführung in unsere Struktur zu verstetigen. Es zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen der geleisteten Agitation und der Anzahl von Interessierten, die in den folgenden Wochen als neue Gesichter zu unserer Gruppe stießen. Dabei kommt der Organisation eine besondere Verantwortung zu, wenn sie Interessierte organisatorisch wie auch ideologisch nachhaltig binden möchte. Dabei ist klar, dass die gesellschaftliche Mobilisierung für die antikapitalistische Krisenerzählung unbedingt klare Organisationsformen und ideologische Leitplanken braucht, um auch in Zeiten sich vermeintlich normalisierender Verhältnisse und nachlassender Wut politisch wahrnehmbar zu bleiben.
Thematisch arbeitende Kommissionen mit vorgelagerten Vorfeldstrukturen schaffen dabei niedrigschwellige Angebote, um Menschen den Einstieg in unsere Gruppe zu erleichtern. Wir haben „Wedding Solidarisch“ in unsere bestehenden Angebote überführt, um mit weiteren Aktiven entlang der Kampffelder praktisch weiterzuarbeiten. Ob wir als revolutionäre Linke aus der Coronakrise politisch wie personell gestärkt herausgehen können, werden wir im Zuge der kommenden Debatten im nationalen wie globalen Kontext sehen.
Klassenkampf und Solidarität
Die Notwendigkeit der klassenbewussten, kämpferischen Solidarität ist drängender denn je. Die ökonomischen Auswirkungen der jetzigen, sich ausweitenden Krise sind kaum zu unterschätzen. Diese Krise bietet der herrschenden Klasse einen guten Vorwand, Angriffe auf Arbeitsverhältnisse mit drohender Pleite zu legitimieren: genannt seien hier z.B. eine staatliche Sparpolitik, Verschärfung der Arbeitsbedingungen durch Entlassungen, Verhinderung gewerkschaftlicher Arbeit (Union Busting), Outsourcing oder der (gewerkschaftliche) Verzicht auf Gehaltserhöhungen und Arbeitskämpfe.
Außerdem steht eine Explosion privater Schulden durch Arbeitslosigkeit für viele Menschen bevor, die sich wiederum in einem dramatischen Anstieg der Zahl von Zwangsräumungen und drohender Wohnungslosigkeit zeigen wird. Gerade jetzt braucht es politische Kräfte, die diese komplexen, zusammenhängenden Widersprüche im Kapitalismus aufzeigen und erklären.
Dies verdeutlicht die Dringlichkeit, linke und revolutionäre Organisationen entlang von krisenfesten, planvollen und kontinuierlichen Formen auszurichten. Unsere Organisationsformen müssen sich an dieser Notwendigkeit orientieren und in der Lage sein, die Fallstricke autonomer und individualistischer Praxis zu überwinden. Es muss uns gelingen, den breiten Massen der Lohnabhängigen zu vermitteln, wie sozialistische (Waren-)Produktion, die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und politische Partizipation im Sinne einer solidarischen Gesellschaft gerecht zu organisieren sind. Dies sind erste grobe Schlaglichter revolutionärer Veränderungen. So kann die revolutionäre Linke politisch wie personell aus den Krisen gestärkt hervorgehen.