Geschichte wird gemacht: Die „Weddinger Fleischrevolte“ von 1912

Im Jahr 1912 rebellierten Arbeiter*innen im Berliner Wedding gegen die Verteuerung eines Grundnahrungsmittels. An diese Hungerrevolte, als lokaler politischer Widerstand gegen erniedrigende Verhältnisse, wird nun erinnert. Dabei gilt es, historische Klassenkämpfe anzueignen und aus ihnen zu lernen. Der folgende Artikel ist im revolt magazine als Erstveröffentlichung erschienen:

Soziale Proteste und Erhebungen der (Berliner) Arbeiter*innen haben Tradition. Kein Wunder, da sie es sind, die mit niedrigen Löhnen abgespeist, in zu teuren und widrigen Mietskasernen hausend und weitgehend vom Reichtum der von ihnen geleisteten Warenproduktion ausgeschlossen wurden und noch immer werden. Historisch wichtige Orte der Arbeiter*innenbewegung in Berlin waren Kieze in Neukölln, Kreuzberg und auch Wedding. Dort kamen die Widersprüche der kapitalistischen Industrialisierung und Ausbeutung wie unter einem Brennglas zusammen: mieseste Arbeitsbedingungen, Massenarmut, patriarchale Unterdrückung und Wohnungsnot.

Im Fall der Weddinger Fleischrevolte im Oktober 1912 waren es die steigenden Lebensmittelpreise, die Arbeiter*innen zur Revolte zwangen. Während sie, darunter unzählige Kinder und Jugendliche, in den Fabriken und Geschäften für Hungerlöhne täglich zwölf bis vierzehn Stunden schuften mussten, strichen sich die Kapitalist*innen fast den gesamten Mehrwert der Dienstleistungen und gefertigten Waren ein. Für die Arbeiter*innen blieb am Ende des Monats kaum etwas in der Lohntüte übrig. Viele mussten trotz Arbeit hungern. Diese besondere Lohnsklaverei hat sich bis heute erhalten. Heute werden diese besonders ausgebeuteten Arbeiter*innen als „the working poor“ (die arbeitenden Armen) bezeichnet.

Warum diese Forschung zur lokaler Arbeiter*innengeschichte? Als Klasse der Arbeiter*innen müssen wir uns der eigenen Geschichte bewusst werden, um sie in Erinnerung zu behalten und um aus ihr zu lernen. Dabei dürfen wir unsere Geschichte nicht jenen (politischen) Gegner*innen überlassen, die die Momente von politischen und materiellen Erfolgen der Arbeiter*innenkämpfe antikommunistisch, als „extremistisch“ oder „totalitaristisch“ verunglimpfen. Es liegt an uns, linke Geschichte, ihre Erfolge, Widersprüche und Niederlagen aufzuarbeiten und daraus Erkenntnisse zu ziehen, wie es besser gemacht werden muss. Kein Hannah-Ahrendt-Institut, kein antikommunistischer Opferverband, keine CDU-Politikerin wird dazu jemals auf unserer Seite stehen. „Geschichte wird gemacht“ heißt für uns, sich den Erzählungen vom „Ende der Geschichte“ zu widersetzen. Diese wurde nach dem Ende der Sowjetunion von rechts lanciert, um Arbeiter*innenkämpfe, sozialistische Politik ad acta legen zu können. Dieser Text ist ein Beitrag dazu, sich bewusst zu werden, dass wir unsere Geschichte als Klasse stets verteidigen müssen. So wie die Arbeiter*innen bei der Fleischrevolte, können und müssen wir den Lauf der eigenen Geschichte und der eigenen Geschicke selbst in die Hand nehmen.

Wir schauen uns nun die materiellen Ursachen der Revolte an, um sie politisch einordnen und besser verstehen zu können. Dies ist dringend notwendig, da die einzige wissenschaftliche Arbeit zu diesem historischen Ereignis ohne materialistische Analyse und vom einem späteren Professor des rechten, antikommunistischen Hannah-Arendt-Instituts, Thomas Lindenberger, geschrieben wurde. Anschließend folgt die Darstellung des Verlaufes der Revolte. Wir werden sehen, dass die vielfältigen Ursachen dieses Aufstands bis heute bestehen. Diese Parallelen werden sich angesichts der aktuellen ökonomischen Krise des Kapitalismus in Pandemie-Zeiten für viele Lohnabhängige weiter zuspitzen.

Der Staat als Gesamtkapitalist

Der wilhelminische Staat erkannte Mitte des Jahres 1912 das Konfliktpotential zwischen den Klassen und versuchte die mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln durch Ankäufe von Fleisch aus dem Ausland ein wenig abzumildern. Denn eine soziale Revolte, die duch hungernde Arbeiter*innen ausgelöst werden könnte, wäre für Staat und Kapitalseite, bürgerliche Parlamentarier*innen sowie die Fabrik- und Maschinenbesitzenden, gefährlich geworden. Der Staat musste – und muss auch heute noch – mit harter (Repression gegenüber der Arbeiter*innenbewegung) und ausgestreckter Hand (Fürsorgeleistungen) agieren, um die ausbeuterischen Verhältnisse für das Kapital und die Macht des bürgerlichen Staates zu schützen. Er schafft damit auch die Illusion, vermeintlich im Interesse aller Bürger*innen handeln zu wollen. In der Realität bedeutet das, dass ausschließlich das Interesse der Reichen und ihre Produktionsbedingungen geschützt werden. Der Staat fungiert damit als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Friedrich Engels).

Der staatliche Ankauf von Fleisch aus Russland und die Subventionierung des Verkaufspreises, rief einen Boykott der Berliner Fleischer und Händler hervor, „russisches Fleisch” zum vom Staat ausgerufenen Selbstkostenpreis auszugeben. Neben nationalistischen Motiven waren es wohl vor allem die zu erwartenden sinkenden Profite, die die Fleischer in den Berliner Markthallen zum Boykott trieb. Durch das auf dem Markt kommende russische Fleisch wäre die damalige Preispolitik von Metzgern und Händlern in Frage gestellt worden. Angesichts der Verknappung von Fleisch als Nahrungsmittel und der Profitspekulation durch überhöhte Preise, wären ihre satten Gewinne gefährdet. Den hungrigen Arbeiter*innen hingegen drohte, ihre Fleischversorgung abhanden zu kommen. Angesichts der schlechten Lebens- und Wohnbedingungen, war dieser Boykott der Tropfen, der das bereits randvolle Fass der Arbeiter*innen zum Überlaufen brachte. Der Staat war in einer Zwickmühle: Arbeiter*innen und Händler/ Metzger kamen in einen Konflikt, der zu eskalieren drohte. Der Senat entsandte daraufhin zahlreiche Polizeikräfte zu den Markthallen, um die Gefahr der Eskalation frühestmöglich mit Repression begegnen zu können und eine Ausweitung der Hungerrevolte zum Wohle der ausbeuterischen Verhältnisse verhindern zu können. Ganz im Sinne der „öffentlichen Ordnung“.

historische Ansichtskarte, wie sie nach der „Fleischrevolte“ verkauft wurden

Wohnen musste Dir leisten können

Viele Menschen aus ländlichen Regionen verloren aufgrund der Industrialisierung ihre Einkommensmöglichkeiten (bspw. im Handwerk) und waren gezwungen, sich in den Fabriken der großen Städte für miese Löhne zu verdingen. Die Berliner Bevölkerung hatte sich innerhalb von 60 Jahren auf 2 Millionen Menschen verfünffacht. Trotz des großen Bedarfs und zu erwartender Mietsteigerung durch verknappten Wohnraum, wurden neue Wohnungen viel zu wenig gebaut. Die Eigentümer*innen der Wohnungen konnten somit kräftig an überhöhten Mieten verdienen. Die Folge waren hohe Mieten in völlig überbelegten Wohnungen. Die Wohnungen, die gebaut wurden, hatten meist die Form von Mietskasernen und somit entwickelte sich Berlin in dieser Zeit zur größten Mietskasernenstadt der Welt. Um sich die Miete leisten zu können, mussten sich mehrere Familien kleine Behausungen teilen und meist auch Schlafburschen bei sich aufnehmen. Fast 10 Prozent der Berliner*innen hatten keinen Schlafplatz und zahlten, wenn sie konnten, für ein paar Stunden ein Bett. Wohnungs- und Obdachlosigkeit waren, ähnlich wie heute, überall sichtbar. Die Überbelegung führte nicht nur zu beengten Verhältnissen, sondern auch zu unzureichender Hygiene und niedrigen Lebenserwartungen. Dazu zählten auch die stetigen Preisteuerungen für Lebensmittel, die neben der Miete den größten Teil der Löhne auffraßen. Unter den Bedingungen einer sich abzuzeichnenden unsicheren Versorgungslage mit Fleisch „als das bedeutendste Lebensmittel für die Arbeiter*innenklasse“ kochte die berechtigte Wut der Arbeiter*innen vollends über. Die Weddinger Fleischrevolte kann somit als Hungerrevolte verstanden werden, die – wie wir gleich verstehen werden – vor allem von Frauen* angeführt wurde.
Neben der produktiven und harten Fabrikarbeit waren sie es, die sich aufgrund von patriarchalem Zwang mit der reproduktiven Arbeit (Haushalt, Lebensmittelversorgung, Erziehung u.v.m.) konfrontiert sahen. Sie wurden somit sprichwörtlich doppelt ausgebeutet: in der Lohnarbeit und zu Hause.

Der Platz von Frauen* ist in der Revolution

Der immensen Doppelbelastung durch produktive und reproduktive Arbeit ausgesetzt, trafen Frauen* die steigenden Lebensmittelpreise sowie der Boykott des „russischen Fleisches“ durch Berliner Metzger und Händler besonders. Die adäquate Nahrungsmittelversorgung der Familie bzw. der Lebenspartner wurde massiv erschwert. Der Hunger war allgegenwärtig. Zu den schwierigen Lebensbedingungen kam zudem eine weitverbreitete Rechtslosigkeit von Frauen* in der Gesellschaft, die sich auch in starkem Maße in häuslicher Gewalt, sexueller Entrechtung sowie in der Verhinderung von Bildung für Mädchen* und Frauen* ausdrückte. Wie heute – sogar noch stärker – wurde die Lohnarbeit von Frauen* weitaus geringer bezahlt. Gegen diese allumfassende gesellschaftliche Gewalt und für die Befreiung aus dieser elendigen Situation musste sie sich gemeinsam organisieren. Im Gegensatz zu vielen Arbeitern, waren Arbeiterinnen* jedoch häufig nicht organisiert, weder gewerkschaftlich noch parteipolitisch. Politisches Engagement von Frauen* war lange Zeit verboten (z. B. durch das Preußische Vereinsgesetz bis 1908) und in vielen Gewerkschaften waren Frauen* als Mitglieder zunächst gar nicht zugelassen. Denn viele Gewerkschaften bekämpften die Erwerbsarbeit von Frauen* explizit als „Lohndrückerei“ (Artus 2019: 9). Die Schaffung des Bewusstseins als Klasse und als unterdrücktes vergeschlechtlichtes Subjekt musste folglich noch stärker in Angriff genommen werden. Die Fleischrevolte ist, wie wir gleich anhand der Beschreibungen nachvollziehen werden, ein Moment, in dem sich Frauen* kollektiv und öffentlich politisch äußern, sich der Wut und Ungerechtigkeit ihrer sozialen Lage Luft verschaffen.
Aufgrund der Lebensumstände ließen sich viele Arbeiter*innen nicht von kurzfristigen Maßnahmen des Staates zur Besänftigung der sich anbahnenden Lebensmittelkrise täuschen. Die Revolutionärin Clara Zetkin drückte zuvor in theoretischen Überlegungen das Verhältnis von Kampf um Emanzipation und Staat so aus:

Wir wissen ganz gut, dass der moderne Nationalstaat der Boden ist, auf dem das Proletariat seinen Klassenkampf führen muss. Wir vergessen aber auch nicht, dass der gegenwärtige Nationalstaat der kapitalistische Klassenstaat ist, der seine Vorteile und Segnungen in erster Linie den ausbeutenden, herrschenden Klassen vorbehält.“

(Bürgerlicher und proletarischer Patriotismus)

Je nach politischer Gemengelage waren es Frauen*, auf deren Rücken die Verhinderung sozialer Proteste und ihre Delegitimierung ausgetragen wurden. Im Zuge der „Weddinger Fleischrevolte“ war es vor allem eine frauen*feindliche Berichterstattung der Medien. Sie suchte die Erklärung der Revolte nicht in der von Staat und Kapitalisten verordneten Armut der arbeitenden Massen und ihre materielle Situation, sondern in angeblicher „Hysterie“ der Proletarier*innen gegenüber den Metzgern und Polizisten. Ein klassisches, rechtes und patriarchales Manöver, um die Unterdrückung von Arbeiterinnen* zu nutzen, um wirkliche soziale Veränderungen zu verhindern.

Wir haben Hunger, Hunger, Hunger! Der Verlauf der Fleischrevolte
Die folgend angeführten Textelemente sind aus dem im Literaturverzeichnis erwähnten Aufsatz von Thomas Lindenberger teilweise gekürzt und zusammengestellt worden. Separate, im Aufsatz befindliche Quellen sind in den in eckigen Kästchen nummerierten Fußnoten angegeben und neu nummeriert worden.

Mittwoch, den 23. Oktober 1912: 1. TAG

Die Tageszeitungen charakterisierten die Vorgänge in bzw. vor der Markthalle in der Reinickendorfer Straße im Stadtteil Wedding als „Revolte der Frauen“ oder „Fleischrevolte“. Gegen fünf Uhr morgens hatten sich an den Eingängen mehrere tausend Frauen versammelt und warteten auf den Beginn des Verkaufs. „Als die Halle geöffnet wurde, rissen die Frauen die an den Eingängen stationierten beiden Polizeibeamten auf die Seite und stürmten in die Halle.“ [1] Auch hier verweigerten die Schlächter unter Hinweis auf seine angebliche Minderwertigkeit den Verkauf des russischen Fleischs. „Unter furchtbarem Geschrei und Wutgeheul“ rückten die Frauen ihnen daraufhin „zu Leibe“: Sie riefen „Wir wollen Fleisch haben“, „Ihr Hunde wollt nichts verkaufen! Wir wollen nicht mehr hungern! Diebe, Blutsauger“, „drangen in die Verkaufsstände, drängten die Fleischer und ihre Gehilfen unter Schlägen und Stößen aus den Läden auf den Gang hinaus und bemächtigten sich aller Fleisch-und Wurstwaren, die sie nur irgend erreichen konnten.“ [ebd.] Die Beute wurde nicht nur in großen Stücken herausgeschnitten und in die Taschen gesteckt, sondern zum Teil auch zu Boden geworfen und zertrampelt. Ein Schlächter musste aus mehreren Wunden blutend von seinen Kollegen aus der Mitte der Plünderinnen befreit werden. „Als einige Schlächter ihre Läden schließen wollten, stürmte ein Haufen Frauen zu den Gemüsehändlern, raffte dort zusammen, was es an Obst, Rüben und Kohlköpfen vorfand und begann ein wütendes Bombardement auf die Schlächter, die ihr Hab und Gut zu retten suchten.“ [ebd.] Der Vorwärts betonte in seinem Bericht besonders das provokatorische Verhalten der Fleischer. Einer rief: „Bringt Euch Sch …. nach Hause statt Fleisch, dann habt ihr was zu fressen“, während ein anderer eine Wurst nach den Frauen warf. Der bereits erwähnte, von Frauen verprügelte Schlächter habe diese mit einem Räucherstock bedroht. [2]

Schließlich gelang es der mittlerweile erschienenen Polizei die Halle zu räumen: „Die Beamten wurden von den Frauen tätlich angegriffen, ins Gesicht geschlagen, mit Würsten, Fleischstücken und anderen Lebensmitteln bombardiert [… ]. Die Weiber, die wilde Drohungen ausstießen, flohen schließlich mit der Drohung: ‚Nachmittags kommen wir mit unseren Männern wieder!‘ aus der Halle. Auf der Straße sammelten sich die rasenden Weiber an und begannen durch Pfeifen und Johlen die Beamten zu verhöhnen. Diese schlossen schließlich die eisernen Gittertore und versuchten durch gütliches Zureden die Demonstrierenden zum Weitergehen zu veranlassen.“ [ebd.]

Anschließend richteten die Frauen ihre Aktionen gegen drei Fleischerläden in den umliegenden Straßen. „Was auf den Ladentischen lag, wurde gestohlen, und als die Schlächter sich zur Wehr setzen wollten, wurden sie mit Pferdekot beworfen.“ [ebd.] Die Anzahl der in der Nähe postierten Schutzmänner war zu schwach, um wirksam einzugreifen. „Die Frauen wurden gegen 10 Uhr durch einige Rotten von Zuhältern und jungen Burschen unterstützt. Die Beamten wurden wiederholt mit Pferdedung beworfen, und die Beamten konnten nur durch ihre große Zurückhaltung und Ruhe Schlimmeres verhüten.“ [ebd.] Am Nachmittag sicherte die Schutzmannschaft die Markthalle durch mehrere Doppelposten und richtete in ihren Verwaltungsräumen eine „fliegende Polizeiwache“ ein. Nur für kurze Zeit, um fünf Uhr herum, wurde die Halle geöffnet. Die vierzehn Fleischer dieser Markthalle beharrten nach wie vor auf ihrer Weigerung, russisches Fleisch zu verkaufen, und schlossen dies auch für die kommenden Tage aus. [3]

Von den 128 Fleischermeistern, die sich gegenüber dem Magistrat zum Verkauf russischen Fleischs bereit erklärt hatten, hatten nur 22 die Zusage eingehalten, während es sich der Rest wohl in erster Linie wegen des zu knappen Verdienstes in letzter Minute anders überlegt hatte. Von der Fleischer-Innung wurde betont, dass es keinen Boykottbeschluss gäbe. „Die bedauerlichen, nicht zu billigenden Szenen im Norden Berlins sind unzweifelhaft auf dieses Verhalten der Schlächtermeister zurückzuführen“, kommentierte die Vossische Zeitung, eine Bewertung, die quer durch alle politischen Richtungen der veröffentlichten Meinung geteilt wurde. [4] Wegen der Beschimpfungen erwog der Magistrat, einigen Fleischern eventuell die Verkaufsstände zu entziehen. [5] Im Laufe des Nachmittags fanden sich dann andere Verkäufer für das russische Fleisch. Von minderwertiger Qualität des importierten Fleisches konnte nach Meinung der Konsumenten wie von Experten keine Rede sein. Der Verkauf im weiteren Verlauf des Tages verlief denn auch ohne Störungen. [6]

Karte zum „Sturm auf die Markthalle“

Donnerstag, den 24. Oktober 1912: 2. TAG

Am nächsten Tag stand der Markthallenbetrieb in der ganzen Stadt unter außerordentlicher Polizeiaufsicht. […] In der Weddinger Markthalle wurde als einziger immer noch kein russisches Fleisch angeboten. Wieder stürmten die Frauen die Stände, stahlen Waren und attackierten einzelne Fleischer. Gegen neun Uhr räumten 30 Schutzleute die Halle und ließen nur noch kleinere Gruppen ein, so dass allmählich Ruhe einkehrte. Wie tags zuvor verlagerten sich die Aktionen jetzt auf die Umgebung der Markthalle, auch diesmal stießen junge Männer hinzu: „Dafür ließen die zahlreichen Rowdies, die die Frauen aufzuhetzen suchten, ihre Wut an den in der Nähe wohnenden Schlächtern aus. Die Schlächterei von Max Röder wurde von den Zuhältern und arbeitsscheuem Gesindel, das sich in der Nähe der Markthalle aufzuhalten pflegt, zu stürmen versucht. Zahlreiche Fleischwaren wurden entwendet. Vor dem Hause sammelten sich etwa 500 bis 600 Menschen, die den Boykott über die Firma verhängten und die Käufer verhinderten, dort ihren Bedarf zu decken. Einer Dame, die trotzdem einen Einkauf gemacht hatte, wurde beim Verlassen des Ladens die Tasche mit Fleischwaren gestohlen, der Hut vom Kopf gerissen und zerfetzt.“ [ebd.] Trotz Polizeischutz musste die Schlächterei schließen. Ähnlich erging es einem weiteren Laden in der Reinickendorfer Straße. [7] Vor der Halle sammelten sich gegen 11 Uhr immer mehr Frauen und Jugendliche an. „Plötzlich erscholl wohl aus dem Munde irgendeines Burschen der Ruf: ‚Los zu Morgenstern, dort gibt es billiges Fleisch!“ [8]

Damit wurde der Höhepunkt der Aktionen dieses Tages eingeleitet. „In kleinen Zügen begaben sich die Demonstranten, die unterwegs noch Zulauf bekamen [zur gleichen Zeit liefen bereits die o. e. Aktionen gegen die anderen Fleischerläden -T.L.], nach der Schererstraße, wo sich in kurzer Zeit eine ungeheure Menschenmenge versammelte. Unter Johlen und Schreien drangen die Leute bis zum Morgensternschen Geschäft vor. In dem Laden befanden sich außer den Angestellten etwa dreißig bis vierzig Käufer und Käuferinnen. Jetzt ertönten schrille Pfiffe und dann Rufe ‚Käufer raus!‘ Der Geschäftsführer Stiller ließ die Kundschaft, soweit sie nicht gleich auf die Straße floh, durch einen nach der Maxstraße führenden Ausgang hinaus; dann eilte er wieder in den Laden und verschloss die Tür. Inzwischen hatte aber die Menge schon eine Attacke auf den Laden unternommen. Stiller zog nunmehr einen Revolver, stellte sich am Eingang auf und drohte die Eindringenden niederzuschießen. [9]
Die vorderen Demonstranten wichen zurück, wurden aber durch die hinteren wieder vorgedrängt. Plötzlich zerbrach eine der Ladenscheiben. Ein Frauenzimmer hatte sie mit dem Fuß eingestoßen. Das war das Signal zum allgemeinen Angriff. In wenigen Sekunden waren die großen Spiegelscheiben zertrümmert, und während ein Teil des Pöbels die hinter den Schaufenstern liegenden Waren raubt, machte sich ein anderer Teil daran, einen vor der Tür haltenden Fleischwagen auszuplündern. Um die im Laden befindlichen Angestellten zu vertreiben, wurde ein neues Steinbombardement eröffnet. Dabei wurde der Geschäftsführer Stiller so schwer verletzt, dass er blutend gegen den Ladentisch taumelte. [ … ] Vier Gesellen trugen Verletzungen an Händen, Armen und Beinen davon. Vom 91. Revier rückten inzwischen Hauptmann Körnich, zwei Polizeileutnants und 30 Schutzleute heran. Während ein Teil der Demonstranten beim Nahen der Beamten die Flucht ergriff, nahm ein anderer Teil eine drohende Haltung ein, so dass die Polizisten blankziehen und die Menge auf diese Weise zurücktreiben mussten. In kurzer Zeit wurden noch weitere Schutzmannskommandos herangezogen und über die ganze Gegend verteilt, um erneuten Angriffen vorzubeugen. Während gegen 1 Uhr mittags die Schutzleute vor und in der Markthalle am Wedding zurückgezogen werden konnten, musste der polizeiliche Belagerungszustand in den übrigen Straßen noch bestehen bleiben, da fortgesetzt neue Trupps die Straßen durchzogen. [10]

Den ganzen restlichen Tag hindurch blieben diese Mobilisierung und Aktionsbereitschaft erhalten. Am frühen Nachmittag, noch während der mittäglichen Schließungszeit der Markthalle, wurden in der Müller- und in der Kösliner Straße je ein Fleischergeschäft angegriffen. Die Abendausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers brachte vom Nachmittag folgenden Lagebericht: „In der bedrohten Gegend patrouillieren Schutzleute, und um 4 Uhr werden weitere Verstärkungen von den Außenrevieren herangezogen. Überall rotten sich schon wieder Demonstranten zusammen. Die Polizei hat Mühe, sie weiterzutreiben. Man befürchtet, dass es in den Abendstunden zu neuen Exzessen kommen wird, jedoch ist ausreichend Vorsorge getroffen, dass jeder Versuch im Keim erstickt werden kann, da überall zahlreiche Schutzleute stationiert sind. Die sämtlichen Schlächterläden am Wedding stehen unter polizeilichem Schutz. Überall sind Beamte eingelegt und vor den Türen Doppelposten aufgestellt.” [11]
Die Öffnung der Markthalle um 17 Uhr bildete den Ausgangspunkt für die letzten Aktionen der Weddinger Fleischrevolte. Es wurde nun endlich auch hier russisches Fleisch verkauft. Kurz vor Öffnung der Markthalle um 17 Uhr hatten sich vor dem Eingang in der Schönwalder Straße „2000 Personen […], unter denen sich etwa 500 Käufer befanden“, gesammelt. [ebd.] Die Polizei ließ die Kundinnen in Schüben von 100 Personen auf der einen Seite der Halle eintreten, während der zweite Eingang am Weddingplatz nur als Ausgang benutzt werden durfte. „Das unruhige Element unter dem Publikum verfolgte den Vorgang mit Pfeifen, Johlen und Schreien; wiederholt sah es sehr bedrohlich aus, so dass die Schutzleute das Publikum in die anderen Straßen abschieben mussten. Zu Zusammenstößen kam es aber nicht, dank der besonnenen Haltung der Schutzmannschaft. Da der Mob sah, dass hier nichts für ihn zu tun war, verzog er sich in die Nebenstraßen.“ [ebd.] In der Schererstraße sicherte ein größeres Polizeiaufgebot die Fleischerei Morgenstern. Also wurden in der Müllerstraße drei (darunter eine Gänseschlächterei) und in der Pankstraße ein Geschäft gestürmt und geplündert. „Als um 8 Uhr die Markthalle wie die Geschäfte geschlossen wurde, sah es überall recht bedrohlich aus. Es waren aber inzwischen weitere Verstärkungen von Schutzleuten herangezogen worden, so dass die radaulustigen Elemente es vorzogen, sich in kleinen Trupps zu zerstreuen. Bis in die späten Nachtstunden hinein hielt ein großes Polizeiaufgebot alle Straßen und Plätze des Wedding besetzt, um Ausschreitungen vorzubeugen.” [12] Von den anderen Markthallen wurden außer lebhaftem Verkehr und dem durch die Polizei geregelten Zugang keine besonderen Vorkommnisse berichtet. [13] Auch im weiteren Verlauf der Woche musste zwar immer wieder Polizei zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt werden, so zum Beispiel in der Andreasstraße; zu „Ausschreitungen“ kam es jedoch nicht mehr. „Ein spekulativer Händler verkaufte Ansichtspostkarten, auf denen ‚Der Fleischkrieg und der Sturm auf die Markthalle‘ in ungemein drastischer Weise dargestellt waren.” [14] In den Wochen danach wurde der städtische Fleischverkauf zur Routine. [15]

Erinnern heißt Kämpfen

Gemäß dieser Losung machen wir uns die lokale Geschichte anhand der „Weddinger Fleischrevolte“ wieder bewusst. Sie ist Inspiration und Kraftgeberin für aktuelle soziale Kämpfe, die wir als Lohnabhängige führen. Die kapitalistische Krise produziert am laufenden Band Widersprüche: Armut, Wohnungs- und Obdachlosigkeit, Femizide/ häusliche Gewalt, Ausbeutung in der Lohnarbeit und Unterdrückung im Alltag. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich seit den vergangenen 108 Jahren rasant verändert. Stets geblieben ist ihr grundsätzlich ausbeutender, kriegerischer und unterdrückender Charakter. Diese sich stetig verändernden Ausformungen des Kapitalismus und seiner Auswirkungen auf Menschen und die Natur müssen wir verstehen lernen. Am Beispiel der Revolte zeigt sich allerdings auch eine Leerstelle. Aufgrund der spontanen Erhebung, fehlte es an einer kollektiven und handlungsfähigen, revolutionären, kommunistischen Organisation, die in der Lage gewesen wäre, diesen spontanen Aufstand zu verstetigen. Auch die Sozialdemokratie (SPD) war nicht in der Lage und willens, die Revolte politisch zu verteidigen. Sie distanzierte sich praktisch von den Arbeiter*innen und schlug sich auf die Seite der Erzählung der Herrschenden und fabulierte von angeblichen Provokateuren, dem „Gesindel“ und „Mob“, der die Frauen* angestachelt hätte. (Vgl. Lindenberger, S. 299) Frauen* als eigenständige politische Subjekte kommen in dieser Erzählweise nicht vor. Da die Fleischrevolte nur eine kurze, spontane soziale Eruption ohne längerfristige politische Auswirkungen war, kann jenseits der Plünderungen nicht davon ausgegangen werden, dass sich nach der Revolte die Versorgungslage für die Arbeiter*innen bedeutend besserte. Jedoch stehen jedoch auch diese historischen Momente für die Weiterentwicklung kollektiven Klassenbewusstseins.

Auf die bürgerlichen Parteien und ihre staatliche Krisenlösung konnten sich die proletarischen Lohnabhängigen also nie verlassen. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich in den vergangenen mehr als einhundert Jahren verändert. Während damals Klassengegensätze klar erkennbar das Leben bestimmten, verschleiert der Neoliberalismus heutige Ausbeutungs- sowie Unterdrückungsverhältnisse. Er rechtfertigt soziale Ungerechtigkeit mit der Lüge „Jeder ist seines Glückes Schmied“, erkennt keine Klassen an und verhindert kollektiven Widerstand durch verschärfte Entfremdung, Vereinzelung und Entsolidarisierung unter den Arbeiter*innen. Dem gilt es entgegenzutreten. Diese Klassengesellschaft gilt es weiterhin zu überwinden. Die politischen Einordnungen und das materielle Verständnis der Ursachen der nachfolgend dargestellten Revolte helfen uns dabei. Geschichte wird gemacht, packen wir es an!


Literaturhinweis:

Lindenberger, Thomas (1994): Die Fleischrevolte am Wedding. Lebensmittelversorgung und Politik in Berlin am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in: Der Kamf um das tägliche Brot, S. 282 – 304.
Artus, Ingrid (2019): Frauen*streik! Zur Feminisierung von Arbeitskämpfen. Berlin.

daraus bezogene Fußnoten:

[1] Vossische Zeitung v. 23.10.1912, Nr. 542.
[2] Vorwärts v. 24.10.1912, Nr. 249, 2. Beil.
[3] Berliner Tageblatt v. 24.10.1912, Nr. 543, 1. Beibl.
[4] Die einzige Ausnahme stellte laut Vorwärts v. 25.10.1912, Nr. 250 die großagrarierfreundliche Deutsche Tageszeitung dar.
[5] Vossische Zeitung v. 23.10.1912, Nr. 542.
[6] Vossische Zeitung v. 24.10.1912, Nr. 543, 1. Beil.
[7] Vossische Zeitung v. 24.10.1912, Nr. 544.
[8] Vorwärts v. 25.10.1912, Nr. 250.
[9] „mit dem er, wie er vor Gericht bekundete, jeden niedergeschossen hätte, der in den Laden selbst gekommen wäre“ (aus der Gerichtsreportage im Vorwärts vom 19.12.1912, Nr. 296, 1. Beil.).
[10] Berliner Lokal-Anzeiger v. 24.12.1912, Nr. 544.
[11] Berliner Lokal-Anzeiger v. 24.10.1912, Nr. 544.
[12] Berliner Lokal-Anzeiger v. 25.10.1912, Nr. 545; Berliner Tageblatt v. 25. 10. 1912, Nr. 545, 1. Beil.
[13] Vossische Zeitung v. 24.10.1912, Nr. 544.
[14] Vossische Zeitung v. 27.10.1912, Nr. 549, 1. Beil.
[15] Vgl. Vossische Zeitung v. 28.10.192, Nr. 511, v. 5.11.1912, Nr. 566.“
(Lindenberger 1994: 285-290)

Dieser Text ist ein historisch-politisches Forschungsprojekt von Hände Weg Vom Wedding im Oktober 2020.
Wir bedanken uns bei C. Pötsch für das exklusiv gemalte Bild!