(UPDATE) Internationalistischer Abend: Feminizide und die Frauen*bewegung in Mexiko

Ein staatlich geförderter Feminizid: Das Beispiel Mariana

von Juliana Ramirez, 08.02.21

Der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen* und Feminizide geht weiter! Aktuell streiken Frauen* an der Freien Universität Chiapas sowie in Mexiko-Stadt gegen systematisches Vertuschen von Feminiziden durch den Staat. Am Bespiel von Mariana Sánchez Dávalos zeigt sich, dass nur der Widerstand auf den Straßen Gerechtigkeit bringen kann.

In Mexiko sterben Frauen*, die von Männern ermordet werden einen zweiten Tod durch die juristischen Institutionen. Heute trägt die politische Empörung über diese Zustände den Namen einer weiteren Frau: Mariana Sánchez Dávalos. In ihrem Fall spiegelt sich deutlich die Ungerechtigkeit, unterlassene Hilfeleistung und Grausamkeit, die der Staat und seine Institutionen an den Körpern von Betroffenen sexueller Gewalt und Feminiziden verüben.

Laut Artikel 325 des Strafgesetzbuches muss jede Frau*, die unter folgenden Umständen zu Tode gekommen ist, als Fall eines Feminizid verhandelt werden: (1) Das Opfer weist Anzeichen von sexueller Gewalt auf; (2) Es gibt eine Vorgeschichte unabhängig von der Art der Gewalt seitens des Täters; (3) Es existierte eine emotionale oder vertrauensvolle Beziehung zwischen Opfer und Täter; (4) Es gibt Hinweise darauf, dass der Täter das Opfer zuvor bedrohte, Übergriffe oder Vergewaltigung beging; (5) Das Opfer wurde seiner Freiheit beraubt; (6) Der Körper des Opfers wurde öffentlich zur Schau gestellt. Im Falle einer Verurteilung erwarten den Täter zwischen 40 und 70 Jahre Haft. Jede*r mit dem Fall befasste Angestellte des öffentlichen Dienstes muss mit bis zu 8 Jahren rechnen, sollte er unzulässigerweise Material zum Fall veröffentlichen oder Ermittlungen behindern.

Ein exemplarischer Fall staatlichen Vertuschens
Die 24-jährige Mariana Sánchez Dávalos studierte Medizin an der Universidad Autónoma de Chiapas (UNACH – deutsch: Freie Universität Chiapas’). Sie absolvierte zum Zeitpunkt ihres Todes das Anerkennungsjahr im öffentlichen Krankenhaus der Gemeinde Nueva Palestina (deutsch: Neues Palästina) im Landkreis Ocosingo, Chiapas. Mariana wurde am 28. Januar erhängt in ihrem Studierendenzimmer aufgefunden. Die Todesursache war laut chiapanesischer Staatsanwaltschaft: Erstickung durch Erhängen, da der Körper keine weiteren Anzeichen von Gewaltausübung aufwies, obwohl die Mutter Marianas das Gegenteil zu Protokoll gab.

So nahm die chiapanesische Staatsanwaltschaft ohne weitere Untersuchung trotz der Tatsache, dass der Fall mehrere Voraussetzungen zur Untersuchung als Feminizid erfüllt, einen Suizid an. Und dass obwohl Mariana bereits sechs Monate vor ihrem Tod sexuellen Missbrauch durch einen Kollegen am Krankenhauses erfuhr. Sie hatte zwei Monate zuvor Strafanzeige wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihn gestellt und meldete den Fall auch an ihrer Universität, um Hilfe zu erhalten. Darüber hinaus bat sie um Schutz durch das Gesundheitsamt mit einer Versetzung in eine andere Gemeinde.

Vergebens. Von allen drei genannten Institutionen zog nicht auch nur eine auf Basis einer geschlechtsorientierten Perspektive Konsequenzen. Das Gesundheitsamt gab dem Antrag auf Versetzung nicht statt, sondern genehmigte Mariana einen Monat „Urlaub”, allerdings ohne Fortzahlung des Praktikant*innengehalts. Nachträglich wurde sie erneut verpflichtet in der gleichen Gemeinde das Anerkennungsjahr zu absolvieren. Die Staatsanwaltschaft äscherte nach der Obduktion den Körper von Mariana ein, und zwar ohne Erlaubnis der Familie. Das verstieß nicht nur gegen die Menschenrechte des Opfers und der Familie, sondern verunmöglichte eine nachträgliche Untersuchung als Feminizid. Angesichts der vorliegenden Hinweise seitens der Mutter, der Recherchen feministischer Kollektive und Aussagen ihrer Studierendenkolleg*innen kann davon ausgegangen werden, dass es sich hier nicht um einen Suizid, sondern um einen staatlich begünstigten Frauen*mord handelt.

Ein Staat gegen sein eigenes Gesetz
Der Staat, das heißt in diesem Fall die chiapanesische Staatsanwaltschaft, die Freie Universität und das Gesundheitsamt sind mitverantwortlich für diesen Frauen*mord, weil sie wegschauten, als sich eine vergewaltigte Studentin an sie wandte. Nicht nur handelten sie gegen das Gesetz, sie verpflichteten sie auch an den Arbeitsplatz ihres Vergewaltigers zurückzukehren. Der Vergewaltiger, der bereits durch Aussagen der Mutter Marianas identifiziert werden konnte, nahm ihr das Leben. Aber der Staat und seine Institutionen verurteilten sie zum Tode durch unterlassene Hilfeleistung.

Bedingt durch den seit vergangener Woche anschwellenden öffentlichen Druck in der nationalen und internationalen Presse, und im Besonderen in Chiapas, entschied sich die Staatsanwaltschaft bereits, es in Betracht zu ziehen, den Fall nun doch als Feminizid zu untersuchen. Nur ohne untersuchbare Leiche, werden sie den Fall schnell unter den Teppich kehren können, wie sie es bereits in anderen Fällen getan haben. Die Geschichte wiederholt sich, die Ungerechtigkeit in Chiapas bleibt und trägt zahlreiche Namen von ermordeten Frauen* und Kindern, die allesamt Opfern von Feminiziden sind. Namen wie Lissette Paulina Gómez Zenteno, Jade Guadalupe Yuing Gómez, Miryana Iveth Saldaña Castillo stehen, ebenso wie Mariana für Feminizide, die trotz der Tatsache, dass sie den gesetzlichen Voraussetzungen entsprachen, nie als Feminizide untersucht wurden. Auch hier schloss die chiapanesische Staatsanwaltschaft den Fall mit der Einstufung als „Suizid” und kehrte ihn damit unter den Teppich.

Nur der Widerstand garantiert die Gerechtigkeit
Die staatliche Straflosigkeit geht weiter. Nur wenn die Angehörigen sich organisierten und kämpften, konnten in der Vergangenheit Fälle als Feminizide untersucht und verhandelt, Täter verfolgt und bestraft werden. Doch selbst dann, wenn der Täter tatsächlich bestraft wird, findet sich im Zuge der Haft oftmals ein Richter, der ihn vorzeitig entlässt – angeblich aus „Mangel an Beweisen”. In Chiapas, wie auch im Rest des Landes, herrschen Ungerechtigkeit und Straflosigkeit in den Institutionen, die den Schutz von Betroffenen von sexueller Gewalt garantieren sollten. Es existiert in Mexiko kein Rechtsstaat für Frauen*.

Die Student*innen verschiedener Fakultäten der Freien Universität Chiapas’ führen zur Zeit eine Bestreikung des Online-Unterrichts durch. Zugleich mobilisieren sie unter dem Motto „Justicia y Destitución de los Directivos!“ (deutsch: „Gerechtigkeit und Rücktritt der Verantwortlichen!“) auf die Straßen zu Kundgebungen und Demonstrationszügen. Ihre Forderung: Dass Mariana Gerechtigkeit widerfährt. Für die Mutter Marianas fängt nun die Hölle staatlicher Repression erst richtig an, die staatliche Organe regelmäßig gegen Familienangehörige ausüben, die sich organisieren und Gerechtigkeit verlangen. Vor einigen Tagen meldete sich die Universitätsleitung mit einer Pressekonferenz zu Wort und verkündete ihre Bereitschaft, zur Aufklärung des Falles beizutragen. Das Gleiche ist nun vom verantwortlichen Gesundheitsamt zu vernehmen. Aber es sind diese Institutionen, die sich heute als geläutert präsentieren und ihren Ruf wahren wollen, die den Tod von Mariana mit zu verantworten haben. Unterlassene Hilfeleistung tötet – als staatlich geförderter Feminizid.


Veranstaltungankündigung

Als feministische Kommission von „Hände weg vom Wedding!“ sind wir am Aufbau des Frauen*streik-Komitees Wedding beteiligt. Der Frauen*streik Wedding versteht sich als klassenkämpferische Stadtteilplattform, denkt Feminismus intersektional und will Klassenkämpfe weltweit mit der Perspektive auf einen feministischen Streik zusammenbringen. Neben der Organisierung im Kiez veranstaltet der Frauen*streik regelmäßig internationalistische Abende. Wenn auch patriarchale Unterdrückung und Ausbeutung überall verschiedene Formen annimmt, gibt es Parallelen und Verwobenheiten. Wir wollen die Reproduktions- und Produktionsbedingungen genauer unter die Lupe nehmen, um die Streikbewegungen von Mexiko über Polen bis nach Indien sichtbar zu machen, uns zu vernetzen und voneinander zu lernen.

Am Freitag, den 29.01.21 ab 20 Uhr findet unser nächster internationalistischer Abend zu Mexiko im Live-Stream statt. Wir werden Feminiziden und den vielfältigen Widerstandsformen gegen Frauen*morde und patriachale Gewalt widmen. Bereits im Vorfeld veröffentlichten wir ein Statement unserer Genossin Juliana Ramirez über den Kampf des feministischen Kollektivs Marea Verde Quintana Roo (twitter @mareaverdeqroo). Und einen Folgebeitrag „Ein staatlich geförderter Feminizid: Das Beispiel Mariana“.

Der würdevolle Zorn von Quintana Roo, Mexiko

von Juliana Ramirez, 20.01.21

Nichts ist paradiesischer als Cancún, die mexikanische Karibik, wo der Tourist die Ruhe und Schönheit der Strände, Riffe und der Artenvielfalt genießen kann. Paradiesisch ja, aber nicht ohne die Blutspur, die sich durch das Land zieht. Allein im Jahr 2020 wurden in Quintana Roo 12 Femizide und 450 Anzeigen wegen Vergewaltigung offiziell registriert. Von Norden bis Süden fordert frauenfeindliche Gewalt weiterhin das Leben von 10 bis 12 Frauen pro Tag, wie im Fall von Bianca Alexis, einer 20-jährigen Frau, die in Cancún sexuell missbraucht, ermordet, ihre Leiche zerstört und in einem schwarzen Sack zurückgelassen wurde. Dieses Ereignis schockierte das Land und mobilisierte die Familie, Freunde und Aktivisten, um gegen die Straflosigkeit und für die sofortige Verhaftung des Frauenmörders zu protestieren. Die Demonstration wurde von der Stadtpolizei mit Schusswaffen aufgelöst, und zwei Journalisten wurden verletzt. 

Angesichts dieser Gewalt und der Korruption der Polizei; angesichts der Gleichgültigkeit der Bundes-, Landes- und Kommunalregierungen, Gewalt gegen Frauen und Mädchen, vor allem Femizide, zu konfrontieren, zu beseitigen und zu verhindern; angesichts der legislativen Unterlassung der für die Verabschiedung von Gesetzen zum Schutz von Frauen und Mädchen zuständigen Gremien; angesichts eines Staates ohne öffentliche Agenda oder Politik zu Frauenrechten; bleibt nichts anderes übrig als feministische Selbstorganisation. Ein Beispiel für diese Kraft des organisatorischen Kampfes ist das Kollektiv „Marea Verde Quintana Roo”, das sich aus Müttern, Studenten und Arbeitern zusammensetzt: Menschenrechtsaktivisten und Kämpfer, die seit siebenundfünfzig Tagen Widerstand in Form der Besetzung des Staatskongresses von Quintana Roo leisten. Obwohl es sich zunächst um ein Sit-in vor dem Gebäude unter dem Namen „Digna Rabia“ handelte, wurde im Laufe der Tage aufgrund der Passivität der Abgeordneten den Forderungen nachzukommen und aufgrund der institutionellen Schikanen beschlossen, jenes Abgeordnetenhaus zu besetzen. Diese Aktion war die erste ihrer Art nicht nur in diesem Bundesstaat, sondern auch die erste, die von Frauen in Mexiko organisiert wurde.

Diese Tatsache fordert die Gesetzgeber und den Gouverneur des Bundesstaates direkt auf, Gesetze und Mechanismen zum Schutz der Frauen vor Gewalt auf die öffentliche Tagesordnung zu setzen, sowie die freie Ausübung ihrer reproduktiven Rechte zu garantieren und all dies in einem Land, in dem Abtreibung stark durch das Gesetz bestraft wird. Tausende von Frauen befinden sich derzeit in Gefängnissen, einige davon mit höchster Sicherheitsstufe, weil sie Abtreibungen vorgenommen haben, sogar für Fehlgeburten. Das Kollektiv Marea Verde Quintana Roo ist eines der 26 feministischen Kollektive, die das Feministische Netzwerk Quintana Roo bilden, das seit 2018 versucht hat, dem Staatskongress 10 Gesetzesinitiativen zu unterbreiten, ohne dass diese Staatsbediensteten auf die Petitionen reagiert und diese bearbeitet haben. Diese gesetzgeberischen Aktionen fordern nicht nur die legale und kostenlose Abtreibung, sie erwähnen auch die Dringlichkeit der Klassifizierung von „Infantilem Feminizid“ und „Transfeminizid“, juristische Begriffe, die aufgrund der sozialen Realität notwendig sind, aber noch nicht offiziell im Strafgesetzbuch existieren.

Erwähnenswert ist auch die Forderung nach der aktiven Teilnahme der feministischen Kollektive in Kommissionen, die sich mit der Gewalt gegen Frauen befassen. In der Besetzung sehen die Kollektive die einzige und letzte Möglichkeit ihre Forderung nach sexueller Selbstbestimmung durchzusetzen. Der Kongress, dessen Sitze zu 52% von Frauen besetzt sind, hat diese in den vergangenen drei Jahren nicht bearbeitet.

Die Aktivistinnen sagen, dass das Gebäude übergeben wird, sobald die Abgeordneten einen Termin haben, um ein Gesetz über die sexuellen Rechte der Frauen zu erlassen. Als Reaktion darauf haben die Gesetzgeber nicht nur keinen Dialog mit den Aktivisten aufgenommen, sondern es wurde auch eine Kampagne der Diffamierung, Stigmatisierung und Repression erzeugt. Internationale Organisationen wie UN Women und Amnesty International Mexiko haben sich gegen die repressiven Maßnahmen des Staates und die Aktivierung des Schutzmechanismus für Menschenrechtsverteidiger und Journalisten ausgesprochen. Gleichzeitig hat sich die Bundesregierung nicht für eine sofortige Beachtung der Forderungen der Aktivisten ausgesprochen, obwohl die Gesetzgeber juristisch wegen Diskriminierung und institutioneller Gewalt angeprangert wurden. Es wurde auch ein Bittbrief an den Präsidenten der Republik, Andrés Manuel López Obrador geschickt, um den Dialog zu vermitteln und die Repression zu beenden. Solange das Blut der Frauen weiter fließt und der Staat kein gewaltfreies Leben oder die volle Ausübung der sexuellen und reproduktiven Rechte garantiert, werden sich innerhalb und außerhalb feministischer Gruppen, Aktivistinnen und Menschenrechtsverteidigerinnen immer wieder neue Formen des Protests und der guten Organisation entwickeln, bis Digna Rabia ihre Mission erfüllt hat.

Link zur Veranstaltung:
Frauen*Streik Wedding Youtube Kanal

Kontakt aufnehmen: femstreik65(at)riseup.net