Dieser Artikel wurde von Jona Schmitz als Beitrag beim Tag des offenen Kiezhauses im September 2022 gehalten und wird hier in leicht aktualisierter Form veröffentlicht.
Wir schreiben das Jahr 1912. 1912 gab es noch keinen Weltkrieg. Es gab noch kein Wahlrecht für Frauen. Für die Arbeiter*innen des Weddings gab es vor allem eins: Massen an Menschen, die ihr Handwerk auf dem Land aufgeben müssen und in die Städte zogen, um dort zusammengepfercht in Mietskasernen unter widrigsten Bedingungen zu schuften und zu hausen. Ein berühmtes Zitat Heinrich Zilles aus dieser Zeit lautet: „Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt.“ Das beschreibt eindrücklich, unter welchen Bedingungen die Arbeiter:innen in Berlin damals lebten.
In Zeiten von Tofu und Veggie-Days ist es schwer vorstellbar, dass das Grundnahrungsmittel der Berliner Arbeiter*innen seiner Zeit Fleisch war. Doch dieses wird im Jahre 1912 immer knapper und so beschließt die Berliner Regierung eine Einfuhr von preiswerterem Fleisch aus dem russischen Ausland. Das passt den Berliner Fleischer*innen so gar nicht, da sie sich von der billigeren Konkurrenz aus dem Ausland bedroht sehen und durch ihren antislawischen Rassismus erst recht kein russisches Fleisch akzeptieren. Sie entscheiden sich deshalb für einen Verkaufsboykott vom russischen Fleisch in den Markthallen. Während in den Fabriken die Arbeiter etwas bessere Löhne bekommen, erwartet die Frauen nach Feierabend noch die Hausarbeit und Kindererziehung. Die fehlende Nahrung durch unbezahlbare Preise hätte in ihrer Doppelbelastung den sicheren Tod bedeutet.
Wie die Weddinger Frauen sich im Oktober 1912 zur Wehr setzen, klingt wie ein Szenario aus einem Roman: Es ist der Morgen des 23. Oktobers 1912 und die Frauen stürmen die Markthallen im Wedding, nehmen sich, was ihnen zusteht und schlagen die einschreitenden Einsatzkräfte mit Würsten und Fleisch. Sie rufen: „Wir wollen Fleisch haben“, „Ihr Hunde wollt nichts verkaufen! Wir wollen nicht mehr hungern! Diebe, Blutsauger“. Zwei Tage heftigster Auseinandersetzung zwischen Polizei und den Frauen des Nordberliner Arbeiterbezirks erzielen einen Erfolg für letztere – das russische Fleisch wird fortan in der Weddinger Markthalle verkauft. Während die Medien seinerzeit nichts Besseres zu tun haben, als die Frauen als „hysterisch“ zu diffamieren und damit einer patriarchalen Logik zu folgen, schickt der Staat seine Schlägertrupps. Frauen dürfen sich auf Grund des preußischen Vereinsgesetzes von 1908 nicht politisch organisieren, doch die Weddinger Fleischrevolte zeigt, dass gerade sie es sind, die sich zusammenschließen und erfolgreich für ihr Grundrecht auf Nahrung kämpfen. Clara Zetkin sagte einst: „Die Frage der vollen Emanzipation der Frau erweist sich also in letzter und entscheidender Instanz als eine ökonomische Frage, die im innigsten Zusammenhang mit der Arbeiterfrage überhaupt steht und nur im Zusammenhang mit ihr endgültig gelöst werden kann.“
Die gesamte Geschichte der Weddinger Fleischrevolte findet ihr hier.
Heute müssen die meisten Bewohnerinnen des Weddings noch keine Schlafburschen in ihren Wohnungen einquartieren, um sich die hohen Mieten leisten zu können. Mit Betonung auf „noch“! Ob beim Griff ins Supermarktregal, an der Zapfsäule oder bei der nächsten Abschlagszahlung: Die gegenwärtige Inflation zeigt sich rasch und drastisch. Während sich Wirtschaftswissenschaftlerinnen streiten, ob wir nun schon den Höhepunkt der Preissteigerung erreicht haben, trifft es uns, die davon abhängig sind, Lohn zu erarbeiten, am Härtesten: Wir können uns trotz Arbeit, das Wohnen und das Essen nicht mehr leisten. Wenn wir auf Transfährleistungen angewiesen oder alleinerziehend sind, reicht das Geld schon längst nicht mehr. Während 100 Milliarden für die Bundeswehr rausgeschmissen werden, bleibt der „Doppelwumms“ ein Rohrkrepierer: Unklar ob der „Abwehrschirm“ überhaupt kommt, können Villenbesitzer mit der Einmalzahlung ihren Pool heizen, während wir, die schon sparen mussten, einen viel geringeren Betrag erhalten. Während Unternehmen bereits im Winter von der Gaspreisbremse profitieren, kommt die Gaspreisebremse für uns vielleicht im März oder April 2023 – also nach dem Winter.
Beim Blick in die Geschichte Weddings, dem Bezirk mit dem berlinweit zweitgeringsten Pro-Kopf-Einkommen, zeigt sich, dass es kollektive Widerstandsformen gab, um den Preissteigerungen entgegenzutreten. 1912 zeigt uns wie 2022 – weder der Staat, noch seine Bediensteten vertreten unsere Interessen, schützen unsere Leben oder setzen sich politisch für die Aufrechterhaltung unserer Lebensgrundlagen ein. Stets nach dem Prinzip Profite über Menschen, vergessen die Herrschenden dabei jedoch die Geschichte: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral!“
von Jona Schmitz