Am 30.4.2016 wird die Antikapitalistische Demonstration ORGANIZE auch durch das Brunnenviertel in Berlin-Gesundbrunnen ziehen. Dies ist ein Teil von Berlin, an dem seit einigen Jahren verstärkte Prozesse der Aufwertung und Verdrängung auf unterschiedlichen Ebenen nachvollzogen werden können. Hier können somit zahlreiche Entwicklungen, die viele Menschen in Berlin betreffen, konzentriert beobachtet werden. Mit der Demonstration gilt es, unseren Protest direkt an die betroffenen Orte zu tragen und gemeinsam ein Zeichen für eine andere Stadt zu setzen. Gleichzeitig ist die Demonstration auch als ein symbolischer Weckruf für die Menschen vor Ort zu verstehen, die Entwicklungen nicht einfach nur hinzunehmen, sondern zusammen dagegen aktiv zu werden.
Brunnenviertel kurz erklärt
Das Brunnenviertel in Gesundbrunnen ist ein Musterbeispiel um zu beobachten, welche Mechanismen in der neoliberalen Stadt zusammenspielen, wenn es um die großflächige Aufwertung von Quartieren und die daraus resultierende Verdrängung der jetzigen Bewohner*innen geht. Entstanden ist das Quartier zwischen den Stadtteilen Mitte und Prenzlauer Berg in den 1960er bis 80er Jahren als Großprojekt des Sozialen Wohnungsbaus in West-Berlin. Noch heute ist das Viertel eines der ärmsten in ganz Berlin. Gleichzeitig sind 2015 die Mieten mit 14,9% dort so stark gestiegen, wie sonst kaum in der Stadt. Das führt zu momentanen Durchschnittskaltmieten von rund 8 Euro/m2. Dass es zu Mietsteigerungen kommt, ist wenig verwunderlich. Das Viertel grenzt direkt an den inzwischen nahezu komplett durchgentrifizierten Prenzlauer Berg. Welche verheerende Auswirkungen die neoliberale Aufwertung haben kann, zeigt sich an den massiven Verdrängungseffekten im Zuge der Sanierungen: Schätzungen zufolge wurden seit 1990 zwischen 80 und 90 Prozent in „Europas größtem Sanierungsgebiet“ letztendlich verdrängt. Da war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Aufwertungswelle auch nach Gesundbrunnen hinüberschwappt.
Gentrifizierung ante portas
Ein wichtiger Motor der gegenwärtigen Aufwertungswelle ist sicherlich die Bebauung des nördlichen Endes des Mauerparks, der direkt an das Brunnenviertel angrenzt. Auf dem bisher ungenutzten Areal soll in den nächsten Jahren ein vollkommen neues Stadtquartier entstehen. Schuld daran ist der Berliner Senat, der 2012 einen Deal mit der Eigentümergesellschaft schloss und ihr das Baurecht für Wohnungen auf dem Gebiet gab. Ein klassischer Kuhdeal: erhielt der Berliner Senat doch vor Jahren von der Allianz-Umweltstiftung eine Fördersumme über Millionen, geknüpft an die Bedingungen, den Mauerpark endlich fertig zu stellen. Als Gegenleistung für diese Umwidmung erhielt der Senat 5ha Parkfläche an anderer Stelle zur Erweiterung des Parks geschenkt und konnte so der millionenschweren Rückzahlung von Fördergeldern entgehen. Damit konnte der Bauwahnsinn beginnen. Die jetzigen Planungen der Groth-Gruppe sehen vor auf dem Gelände rund 600 Wohnungen zu errichten, von denen rund 70% Mietwohnungen mit einer Durchschnittsmiete von 11,50Euro/m2 sein sollen. Außerdem sollen 190 Eigentumswohnungen und ein Baugruppenprojekt verwirklicht werden. Von den Mietwohnungen sind rund 120 als subventionierte Sozialwohnungen von der GEWOBAG geplant. Doch die geplante Kaltmiete von 6,50Euro/m2 dürfte als weniger sozial anzusehen sein. Schließlich befindet sich diese über den Mietobergrenzen, die vom Jobcenter gefordert werden.
Seit dem Bekanntwerden dieses wohnungspolitischen Großprojektes gab es verschiedene Anwohner*innen-Initiativen, welche sich auf unterschiedlichen Ebenen kritisch mit der Bebauung auseinandersetzten. Gemeinsam unter dem Label der Mauerpark-Allianz planten sie im Frühjahr 2015 ein Bürgerbegehren, um den Widerstand auf breitere Füße zu stellen. Noch während das Bürgerbegehren vom Bezirk geprüft wurde, zog jedoch der damals neue Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel das Projekt an sich und machte es damit quasi zur „Chefsache“ der Landespolitik. Indem der Bezirk damit die Kompetenzen verlor, wurde auch eine Intervention auf bezirklicher Ebene verunmöglicht. Geisel selbst begründete diese Entscheidung mit dem „Gemeinwohl der Stadt“ und der zu erwartenden Entspannung des Wohnungsmarkts bei 600 neuen Wohnungen. Hierbei handelt es sich jedoch vorwiegend um politische Rhetorik, denn der tatsächliche Einfluss von ein paar hundert Neubauwohnungen auf den angespannten Wohnungsmarkt dürfte als eher gering einzuschätzen sein. Tatsächlich ging es wohl vielmehr darum, ein prestigeträchtiges Großprojekt gegen die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen vor Ort durchzusetzen und sich eine Schlappe wie bei der Abstimmung gegen das Mediaspree-Projekt zu ersparen. Das ganze Bebauungsverfahren ist damit ein exzellentes Beispiel für eine autoritäre Stadtpolitik von oben. Gleichzeitig wird mit der Bebauung des nördlichen Endes vom Mauerpark nicht nur symbolisch die Lücke zwischen Prenzlauer Berg und Gesundbrunnen geschlossen.
Neu, neu, neu sind alle meine Häuser
Schon jetzt sind die negativen Auswirkungen des Großprojekts auf das benachbarte Brunnenviertel deutlich zu spüren, denn das Quartier ist innerhalb kürzester Zeit zu einem überaus beliebten Standort für Neubauten geworden. Dadurch wird nicht nur die Bevölkerungsanzahl in den nächsten Jahren um rund 10% wachsen. Auch die soziale Zusammensetzung wird sich drastisch verändern, was vor allem am Charakter der neuen Häuser liegt. Exemplarisch für die zu erwartenden Entwicklungen steht das Bauprojekt der DEGEWO an der Graunstraße Ecke Gleimstraße. Hierbei handelt es sich um das größte Neubauunternehmen einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft innerhalb des S-Bahn-Rings, sodass von dem Bau auch eine große Symbolwirkung für die allgemeine Richtung der Berliner Wohnungsmarktpolitik der nächsten Jahre ausgeht.
Während der Senat und die DEGEWO das Projekt auch als Einlösung des Versprechens aus dem „Berliner Mietenbündnis“ verstehen, sozialverträglichen Wohnraum zu schaffen, zeigt der Blick auf die Preise doch etwas anderes. Insgesamt sollen drei Gewerbeeinheiten und 104 Mietwohnungen entstehen. Von diesen sind ganze 34 Wohnungen als Sozialwohnungen öffentlich gefördert. Die durchschnittliche Nettokaltmiete soll auch hier bei 6,50 Euro/m2 liegen, in den anderen Wohnungen sind 9,50 Euro/m2. Statt groß angelegtem Neubau von bezahlbarem Wohnraum wird also nur ein kleiner prozentualer Anteil zwar verbilligt, aber mit immer noch recht hohen Mieten angeboten. Das ist also die Zukunft des Berliner Wohnungsmarktes: die Armen müssen das nehmen, was bei den prestigreträchtigen Neubauprojekten für sie übrig bleibt. Dass sich mit einer solchen Politik der ohnehin angespannte Berliner Wohnungsmarkt gerade in den niedrigpreisigen Segmenten auch nur ansatzweise entspannen lässt, ist mehr als unwahrscheinlich [1].
Wenn nicht neu, dann wenigstens teurer
Doch nicht nur durch Neubau wird die Mietpreisschraube im Brunnenviertel kräftig nach oben gedreht. Auch in den bestehenden Wohnungen steigen die Mieten. Besonders ärgerlich ist das, weil die meisten Häuser im Viertel (etwa 3.600) der landeseigenen DEGEWO gehören, also einer Firma, die sich selbst zu einer sozial verträglichen Politik verpflichtet hat. Bereits seit Jahren arbeitet die DEGEWO an einer Aufwertung des Brunnenviertels, um von den steigenden Mieten im Prenzlauer Berg zu profitieren und das eigene Portfolio zu vergolden. Die bisherigen Versuche waren vor allem temporäre Zwischennutzungskonzepte für Gewerbeflächen, mit denen versucht wurde, statt billiger Spätis und Casinos eher hippe Cafés und Läden ins Brunnenviertel zu holen. Dazu wurden beispielsweise beim so genannten „DEGEWO Gründerpreis“ für Start-Up-Unternehmen, den Gewinner*innen Gewerbeflächen für ein Jahr mietfrei überlassen.
Doch diese vorwiegend optische Aufwertung war der DEGEWO noch nicht genug und im April 2015 verschickte sie großflächig Mieterhöhungen im Brunnenviertel. Hintergrund war, dass die DEGEWO vorzeitig Fördersummen an das Land Berlin zurückgezahlt hat, wodurch die Wohnungen nicht mehr unter das „Mietenkonzept des Sozialen Wohnungsbaus 2014-2017“ fielen. Mit diesem Konzept sollten eigentlich die Mieten in einzelnen Gebieten, die als besonders schutzwürdig angesehen wurden, durch staatliche Mietsubventionen begrenzt werden. Indem sich die DEGEWO nun quasi aus dieser Vereinbarung rauskaufte, mussten die vorher von der Stadt übernommenen Mietkostenanteile auf einmal komplett von den Mieter*innen getragen werden. Gewinner dieses Deals war nicht nur die DEGEWO, der es ja im Endeffekt egal sein kann, von wem die hohen Mieten getragen werden, sondern vor allem der Berliner Senat, der durch die Rückzahlung Geld erhielt und gleichzeitig Subventionen einsparte. Das so frei werdende Geld konnte dann in weitere stadtpolitische Projekte gesteckt werden, wie z.B. die Subventionierung der Sozialwohnungen im Mauerpark. Auf diese Weise zahlen die Mieter*innen im Brunnenviertel zumindest indirekt für die Aufwertung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft [2].
Und die Moral von der Geschicht’…
Anhand dieser kurzen Beschreibungen sollte klar geworden sein, dass sich in den Entwicklungen im Brunnenviertel viele Schräglagen der gegenwärtigen Berliner Wohnungsmarktpolitik exemplarisch zeigen. Der Senat und die Bezirke kümmern sich vor allem um prestigeträchtige Großprojekte, in denen wenn überhaupt ein verschwindend geringer Anteil an vermeintlich sozial verträglichen Wohnungen entsteht. Die landeseigenen Wohnungsbauunternehmen machen bei diesem Spiel mit und erhöhen selber die Mieten, wo sie nur können. Auch wenn sie zumindest formal über einen gewissen sozialen Auftrag verfügen, indem sie für mehr sozialen Wohnungsbau sorgen sollen, was u.a. in den Leitlinien des sogenannten „Berliner Mietenbündnisses“ festgeschrieben ist, werden sie diesem nicht gerecht. Die landeseigenen Gesellschaften agieren als das, was sie sind: kapitalistische Unternehmen. Die Leidtragenden dieser Entwicklungen sind die Mieter*innen und hier vor allem jene mit weniger Einkommen. Da ist es auch nicht verwunderlich, dass es im Brunnenviertel momentan so gut wie keine Fluktuation in den Wohnungen gibt. Obwohl die Preise unaufhörlich steigen, versuchen die Menschen noch ihre Wohnung in der Innenstadt zu halten. Denn wenn sie die verlieren würden, bliebe vielen nur der Umzug an den Stadtrand. Bei einem geschätzten Leerstand von ca. 1 Prozent auf dem Berliner Mietwohnungsmarkt eine wahre Wahnsinnssituation. Eine Kündigung oder vom Jobcenter geforderte Mietkostensenkung kann somit unweigerlich zur Wohnungslosigkeit führen.
Doch wir können und wollen solche Prozesse nicht unkommentiert zulassen. Deswegen führt die Antikapitalistische Demonstration ORGANIZE in diesem Jahr an zentralen Orten der Aufwertung im Brunnenviertel vorbei, u.a. am angesprochenen Neubauprojekt an der Ecke Graunstraße/Gleimstraße und am Kundencenter Nord der DEGEWO in der Brunnenstraße 128. Wir dürfen uns nicht verdrängen lassen. Dagegen hilft nur der gemeinsame Kampf. Vernetzen wir uns am 30.4. und tragen an allen anderen Tagen im Jahr unsere Wut zu den Aufwertungsakteuren und Profiteuren der Verdrängung. Eine Stadt für alle!
Infos zur Antikapitalistischen Demonstration ORGANIZE und weiteren Aktionen:
24.04. | 14 Uhr | Stadtspaziergang zu Rassismus und Verdrängung @ U-Bhf. Leopoldplatz, Ausgang Alte Nazarethkirche, Wedding
30.04. | 15 Uhr | “Gegen Verdrängung und soziale Ausgrenzung” Für die solidarische Stadt von unten! Danach zur Demo in den Wedding! @ Hermannplatz, Neukölln
30.04 | 15:30 Uhr | Vortreffpunkt & gemeinsame Anreise aus Moabit @ U-Bhf. Turmstraße, “kleiner Ottopark”
30.04 | 16:30 Uhr | “Organize. United Neighbours against racism and social exclusion” Demonstration @ U-Bhf. Osloer Straße, Wedding
30.04 | 18:00 Uhr | Konzert & Kundgebung “Friedel54 bleibt!” @ Reuterplatz, Neukölln weitere Informationen: https://friedel54.noblogs.org
01.05. | 09:30 Uhr | Klassenkampf-Block auf der DGB-Demo. Kämpfen! Streiken! Besetzen! @ Hackescher Markt, Mitte
01.05. |18:00 Uhr | Revolutionäre 1-Mai-Demonstration. Hinein in den stadtpolitischen & antiautoritären Block! @ Oranienplatz
05.05. | 20.30 Uhr | Nach der Demo: wie geht es weiter? Auswertung, Perspektiven, Widerstand!@ Café Cralle, Hochstädter Straße 10a, Wedding
Mobi-Video: https://youtu.be/-cDLtXlblHc
Aufruf zur Demonstration: https://haendewegvomwedding.blogsport.eu/?page_id=13
Aufuf: Call Out For Action!: https://linksunten.indymedia.org/de/node/175973
[1]bmgev.de/mieterecho/archiv/2015/me-single/article/tropfen-auf-heissen-stein.html
[2]www.gleimviertel.de/archives/26503
„Laut gegen Verdrängung“- Pressemitteilung zur Lärm-Demo im Brunnenviertel: http://haendewegvomwedding.blogsport.eu/?p=1167